Die Greisin

Sie ging Tag für Tag immer die gleiche Straße entlang und schaute sich die Gesichter der Vorbeigehenden an. In ihren Augen konnte sie all den Schmerz, das Elend und die Trauer erkennen, die die Menschen mit sich trugen. Sie versuchte oft, das Glück oder die Fröhlichkeit der Menschen zu spüren, es ist ihr nie gelungen. Glückliche Menschen waren für sie fast unsichtbar, und wenn sie das Gesicht eines glücklichen Menschen anschaute, sah sie keine Augen. Die Augen verschwanden hinter den Lachfältchen oder hinter der Strahlung der Zufriedenheit. Es tat ihr weh diese Menschen sehen zu müssen denn ....

Sie war alt, sie war krank, sie war am verwesen ... sie war eine Greisin.

Die Menschen, die sie zum ersten mal sahen, hatten Angst vor ihr, sie verspürten Ekel. Wenn sie sie sahen, wollten sie auf die andere Seite der Straße bis ...

Sie ihre Augen sahen. Man sah all den Schmerz, das Elend und die Trauer, die die alte Frau mit sich trug. Und sie hatte mehr davon als alle Menschen auf dieser Straße zusammen. Doch sie hatte noch etwas in der Tiefe ihrer Augen. Dieses Etwas gab den Menschen Hoffnung und zog sie zu ihr....

Jeder Mensch, der der Frau einmal tief in die Augen schaute, wurde sich sofort sicher, daß er eigentlich sehr glücklich ist, daß er praktisch keinen Schmerz empfindet, daß ihm fast an nichts fehlt, denn verglichen mit der Greisin war das auch nicht anders.

Auf der Straße kannte man die Frau, und jeder, dem es mal nicht so gut ging, mußte nur mal auf die Straße gehen und ihr begegnen. Sobald man ihre Augen sah, ging es einem gleich viel besser. Pfeifend und tanzend ging man wieder nach Hause und widmete sich dem Alltäglichen. Und wenn sich die Freude nicht über zwei Tage andauern konnte, ging man am nächsten Tag einfach wieder auf die Straße.

Eines Tages verstarb die Greisin...

......Es gab mal eine Straße in unserem Stadtteil. Jeder glücklicher Mensch mied sie. Jeder unglücklicher Mensch der die Straße lang fuhr, wurde glücklich, denn...

Es war ein Ghetto für das Elend unseres Stadtteils.

Wenn Einer Meinte, er würde schrecklich leiden, ging er zu der Straße und sah, was Leiden wirklich bedeutet. Jeder, der die Straße in tiefer Trauer betrat, kam freudestrahlend am anderen Ende wieder raus. Keiner von uns fühlte sich mehr arm, weil man die Armut der Straße kannte.

Eines Tages verstarb die Straße...

......Es gab mal einen Stadtteil in unserer Stadt......

 

 

 

28.01.2000

Edik