Die erste Kapsel

Selten gibt es einen Menschen, der mit dem Tod zurecht kommt.

Kaum einer möchte wirklich sterben.

Nicht einmal Selbstmörder zähle ich persönlich zu den Menschen, die nicht gerne leben würden.

Im Endeffekt existieren auf der Erde mit bestimmter Sicherheit etwa nur 10 bis 1000 Menschen, die das Leben für etwas Schlechtes halten und deswegen den Tod völlig nüchtern und berechnet vorziehen.

Heute ist es soweit...

Mit Hilfe der heutigen Medizin und durch die heutige Medizin würde ich noch gute 20 bis 40 Jahre leben können, bis ich eines natürlichen Todes sterbe.

Doch heute ist es soweit..

Heute, zu meinem 100-sten Geburtstag bekam ich die erst vor Kurzem entdeckte genomedikamentöse Behandlungsmethode, die den Körper fast vollständig regeneriert.

Bei regelmäßiger Anwendung der in Form der Kapsel reduzierten Wundermedizin würde ich in 5 bis 10 Jahren wie 40 aussehen, und in weiteren 10 würde man mich von einem 30-jerigen nicht mehr unterscheiden können.

Ich bedankte mich herzlich für das Geschenk bei meiner Verwandtschaft und faßte es in erster Linie als Kompliment auf, denn scheinbar wünschten sie mir ein langes Leben.

Erst als die Gäste weg waren, bekam ich die Gelegenheit nachzudenken, was das für mich persönlich bedeuten würde, den eigenen Tod bis ins Unendliche aufschieben zu können.

Ich versank in den Gedanken...

Wäre ich 20 oder 30, hätte ich das Gefühl, daß mein Leben noch vor mir liegt. Ich hätte noch Vieles nicht gesehen, auf Vieles wäre ich neugierig. In meiner Banalität und Naivität hätte ich noch nicht so viele Gedanke an den Tod verschwendet.

Mit 100 Jahren habe ich kaum noch Ambitionen, irgendwas mit meinem Leben anzufangen.

10 Jahre im Ruhestand machen einen Träge, was die Lebensplanung angeht. 60 Jahre Arbeit machen einen Faul, was Beschäftigung allgemein angeht. Und 100 des Lebens machen einen Müde.

In ein Paar Jahren gibt es bestimmt die ersten Selbsthilfegruppen für die über 100-jerigen, die das Leben neu anfangen müssen und nicht wissen, wie sie das anstellen sollen..

"Hallo.. mein Name ist Eduard Spiegel, ich bin 105 Jahre alt. Ich nehme die Kapsel seit meinem 100-sten Geburtstag. Meine Verwandtschaft hat mir die Behandlung zum Jubiläum geschenkt. Mittlerweile sehe junger aus, als die Meisten von denen, und das macht mir zu Schaffen.

Vor 2 Jahren habe ich meinen alten Job wieder aufgenommen, nur leider macht er mir kein Spaß mehr. Zur Zeit überlege ich mir, ob ich nicht was Neues studieren sollte, doch man riet mir zu warten, da sich die Gehirnzellen nicht so schnell regenerieren lassen, wie der Rest des Körpers, und ich deswegen nicht mitkäme.

Nach einem frisch verabschiedeten Gesetz bekomme ich nächstes Jahr nur noch 50 % meiner Rente, nur glaube ich, daß ich ... ich bin einfach noch nicht soweit."

Dann breche ich in Tränen auf und alle danken mir für meine Offenheit...

Wann hat man eigentlich genug vom Leben? Nach 200 Jahren, nach 300? Vielleicht erst nach 1000?

Ich könnte mir vorstellen, daß es nach 1000 Jahren keinen Unterschied mehr macht, ob man lebt oder Tod ist. Ganz sicher macht es keinen Unterschied mehr, wie lange man Lebt.

Wenn es keinen natürlichen auch wenn ungefähren Zeitpunkt des Dahinscheiden mehr gibt, wozu soll man noch die Jahre Zählen?..

Wieviel Wahrheit steckt in der Geschichte vom Highlander und wieviel Irrtum?

Wie lange hält man ohne einen Plan aus, in völliger Ungewißheit, ohne der geringsten Vorstellung, was als nächstes kommt?

Wie hoch steigt die Todesangst, wenn der Spruch: "Jeder stirbt irgendwann!" – in der Form nicht mehr gilt?

Wenn man dann mit 400 Jahren stirbt, was verpaßt man alles von den nächsten 4000 Jahren.

Vielleicht die nächste geniale Erfindung, die es zumindest dem Geist ermöglicht, ewig zu leben, eventuell die Formel des ewigen Glücks, womöglich die Wiederkehr Jesu....

Mit diesen und solchen Gedanken bin ich eingeschlafen.

Ich schlief sehr unruhig. Immer wieder wachte ich auf, um nach der Uhr zu schauen, doch ich kann mich an keine Zeit erinnern.

Als es hell würde, wachte ich an einem merkwürdigen Traum ohne Handlung auf.

Dieser Traum versetzte mich in einen Zustand, der an Verzweiflung, Angst, Wut, Reue und noch etwas Undefinierbares zusammen erinnerte.

Ich schnappte mir die Packung mit den Kapseln, und nach 5 Minuten des Anstarren teilte ich meiner Verwandtschaft mit, daß ich das Geschenk leider nicht annehmen könne.

10 Jahre danach starb ich...

Als ich über meinem Grab schwebte und die traurigen Gesichter meiner Verwandten und Bekannten betrachtete, wurde ich das Gefühl nicht los, daß ich zu früh gestorben bin.

Vielleicht lag es daran, daß die meisten meiner Bekannten wie 30 aussahen und die meisten meiner Verwandten wie 40. Oder aber lag es daran, daß der wie 30 aussehender Pastor nach dem "Letzen Wort" mit dem Zeigefinger auf mein Grab zeigte und zu lachen anfing.

In den nächsten Sekunden fing dann auch der Rest der Trauernden an zu lachen und mit dem Finger auf das Grab zu zeigen.

Ich weiß nicht inwiefern es für einen Geist möglich ist, verwirrt zu sein, war ich es wohl in diesem Moment.

Und spätestens als die ganz in Schwarz gekleideten Trauernden vor Lachen auf der Erde lagen und nun auf mich in die Luft zeigten, hielt ich den Bogen der grotesken Trauerfeier für überspannt und wachte erneut auf..

Diesmal mußte ich mich davon überzeugen, daß ich nicht immer noch schlaffe, und nachdem ich das tat, schnappte ich mir die Packung mit dem Medikament, riß sie auf und schluckte die erste Kapsel.

...