Der Geisterzug

Die Pilzwolke hat er nur angelächelt. Er wußte, daß nichts mehr so sein wird, wie früher...

Seit 50 Jahren fahren wir schon die gleiche Strecke .. hin und zurück. Ich weiß alles über die Mitfahrenden, die Mitfahrenden wissen alles über mich.

Seit 45 Jahren haben wir einander nichts mehr zu sagen. Wir sitzen nur da und schauen aus dem Fenster, obwohl es größtenteils immer nur das gleiche Bild ist...

Seit 40 Jahren zähle ich die Pilzwolken nicht mehr.

Seit 35 lächele ich sie nicht mehr an.

Ich kann allerdings auch nicht mit Sicherheit sagen, ob ich die je wirklich komisch fand.

Ungefähr seit 30 Jahren fährt unser Geisterzug ohne Gleise; die Überlebenden haben die Stück für Stück abgebaut.

Seit einem Viertel Jahrhundert habe ich keinen Lebenden Menschen mehr gesehen.

Seit zwei Zehntel keine lebenden Tiere...

Seit 15 Jahren warten wir nur noch auf die Geisterbombe, da das die einzige Attraktion geblieben ist. Wir fahren durch die toten Städte und hoffen, daß sich irgendwas verändert; nur noch die Untoten wandern durch die dem Boden gleichgemachten Vierteln.

10 Jahre ist es ungefähr her, daß die Frau fünf Sitze weiter aufgehört hat, nach jedem Knallen der immer und immer wieder kommenden Bombe zu heulen.

Seit 5 Jahren vermisse ich das Heulen nicht mehr.

Gestern habe ich geglaubt, daß wir jetzt endgültig tot sind. Die Zeiten der Hölle sind vorüber, jetzt kommt nur noch die Ewigkeit.

Doch heute...

Heute hat der Zug zum ersten mal seit 50 Jahren angehalten.

Zuerst waren alle verwirrt. Keiner konnte richtig glauben; wir dachten, es wäre aus. Die Einen hatten Angst, daß es vielleicht etwas Schlimmes bedeutet; die Anderen waren froh, weil sie wußten, daß es auf keinen Fall schlimmer werden kann. Doch als die Türen aufgingen, haben sich die Gefühle noch mal gewendet. Wer Angst hatte wurde froh, wer froh war bekam Angst.

Heiterkeit brach aus. Alle versammelten sich an den offenen Türen. Man schaute sich an, man lachte und man weinte .. doch keiner hatte den Mut aufgebracht, auszusteigen...

Als die Türen zugingen, und der Zug weiterfuhr, gingen alle auf ihre Plätze zurück. Niemand sagte ein Wort. Man schaute einander an, und man schaute aus dem Fenster.

Man spürte die Gedanken jedes Einzelnen, doch jeder einzelne Gedanke blieb unausgesprochen.

Wir waren einfach noch nicht bereit. Nicht bereit die Welt da draußen kennenzulernen. Die Angst davor war viel stärker als die noch ungeborene Neugier.

Doch ich wette, in spätestens 50 Jahren wird dieser Zug seine Passagiere endlich los.

migrenboy