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Ich war nach dem Film wie benebelt...

Es hat nicht mehr geregnet, doch die Pflastersteine waren naß.

Alles, die ganze Welt hat sich drin gespiegelt.

Die wenigen Menschen, die auf den leeren Straßen rumschlenderten warfen keine Schatten mehr auf den Boden, sondern ihre Spiegelbilder.

Diese andere Welt zog mich an.

Ich mied die Blicke der Vorbeigehenden.

Sie waren mir zu ehrlich, zu klar, zu bodenständig.

Ich konnte ihre verräterischen Absichten nicht mehr ertragen.

So schaute ich auf den Boden.

Dort unten, in dem trüben Glanz der Pflastersteine, schien die Welt einem zuvorzukommen.

Es war die Welt des Betrachters .... meine Welt.

 

Ich war nach dem Film wie benebelt...

Ich war allein an dem Abend.

Ich ging nach Hause.

Ich ging schnell.

Ich ging ohne Halt, ohne mich umzusehen, ohne zu versuchen, mich an die oben passierende Welt zu klammern, doch nicht ohne Kummer.

Ich war so tief in meiner Welt versunken, daß mir jede Gruppe von mehr als einem männlichen Spiegelbild Angst machte, und Gruppen mit mehr als zwei empfand ich als eine unmittelbare Bedrohung meiner Existenz.

Ich versuchte selbst Bedrohlich auszusehen.

Ich tat, als hätte ich vor nichts Angst.

Ich tat, als könnte ich jeden Moment in einen Kampf gehen....

....Ich glaube, ich tat abwesend, unsichtbar.

Der zugelassene Regenschirm in meiner Hand war meine Vertedigungswaffe.

Ich überprüfte ihn auf Funktionsfähigkeit: auf Härte.

Ich hielt ihn so fest, daß er mir nicht aus der Hand ausrutsche.

Der Regenschirm war mein Pfad, meine Energiequelle.

In meinen Gedanken übte ich damit den Ernstfall.

 

 

Ich war nach dem Film wie benebelt...

Ich hatte ungefähr der Hälfte des Weges hinter sich.

Ich war immer noch tief in meiner Welt drin, als ich bemerkte, daß ein Pärchen mir entgegenkam.

Er war zu Fuß und sie war mit Fahrrad unterwegs.

Sie unterhielten sich leidenschaftlich.

Sie hatten sich eine eigene kleine Welt erschaffen, worin sich aufzuhalten äußersten Konzentration bedarf.

So kam es dazu, daß wir einander nicht bewußt waren, biß die unmittelbare Nähe das innere Ich aufforderte in die wirkliche Welt zurückzukehren.

Die Frau war auf meiner Höhe.

Wir näherten uns unaufhaltsam.

Es waren vielleicht grade zwei Sekunden, die uns trennten.

Und in diesen zwei Sekunden mußte mindestens eine Entscheidung getroffen, und eine Reaktion erfolgt werden.

Die Frau zuckte mit dem Lenkrad.

Einmal nach links, einmal nach rechts, doch blieb auf der ursprünglichen Bahn.

Also blieb die Entscheidung bei mir.

Ich hatte gedacht, ich könnte das unkontrollierte Fahrrad aufhalten, indem ich es einfach am Lenkrad fasse und durch entgegenwirken der Eigenkraft zum stehen bringe.

Das könnte effektvoll ankommen.

Doch was ist mit dem Regenschirm, mit meiner Waffe?

Die hielt ich immer noch in der Hand.

Ich hatte gedacht, ich könnte die Waffe einfach fallenlassen, um dann mit zwei freien Händen das Fahrrad aufzuhalten.

Das könnte noch effektvoller ankommen.

Ich hatte aber auch gedacht, daß der Mann, der in knapp einem Meter Entfernung das Geschehen betrachtete, das komisch finden könnte.

So verabschiedete ich mich schnell von dem Gedanken und machte einen Schritt zur Seite, um der Frau freie Bahn zu verschaffen.

 

 

 

 

Doch es war zu späht.

Meine plötzliche Bewegung wird sie irritiert haben.

Sie verlor die Kontrolle über das Fahrrad.

Sie fiel.

Ich habe nicht sofort eingesehen, daß es vielleicht angebracht wäre stehenzubleiben, meine Aufmerksamkeit der verhinderten Fahrradfahrerin zu widmen, ihr eventuell beim sich aufrichten behilflich zu sein und ihr vielleicht auch mein Beileid auszusprechen.

Als ich mich umdrehte, war ich gute zwei Meter von der Unfallstelle entfernt.

Ich war in einer Klemme.

Es war zu späht ihr zu helfen, es war zu späht sich zu entschuldigen ... ich glaube, es war zu späht stehenzubleiben.

Und nun wäre es auch nicht die richtige Zeit sich einfach umzudrehen und weiterzugehen.

Ich stand wie einbetoniert.

Ich konnte mich nicht von der Stelle bewegen.

Ich stand wie eine Laterne, wie ein Baum, wie eine kleine Mauer.

Ich konnte keinen eigenen Gedanken fassen.

Ich wartete nur darauf, daß die Beiden sich umdrehen, weggehen und mich entzaubern.

"Was sollte das denn grade?" – sprach der Mann.

Er hatte völlig recht.

Ich würde auch auf keinen Fall versuchen mit ihm darüber zu diskutieren.

Aber es war noch lange nicht Alles.

Während er sprach, machte er zwei langsame Schritte in meine Richtung.

Ich empfand dieses als einen klaren Fall der Aggression gegen meine Person.

Jetzt konnte ich plötzlich wieder denken.

War er das, der Ernstfall?

Ich hatte kein ausgeprägtes Verlangen, darüber nachzudenken.

Doch ich mußte etwas sagen.

Sonst sieht es noch merkwürdiger aus, als es bis jetzt schon war.

Nun, was sollte ich ihm erzählen?

Vielleicht etwas bedrohliches, etwas, wonach er die Situation anders überdenkt.

Aber mein Deutsch: ich könnte in so einer kurzen Zeit nichts Sinnvolles aus mir herausbekommen.

Wie wäre es denn mit Russisch?

Russisch klingt immer bedrohlich ....

"Ja by na twojom meste....(Ich an deiner Stelle....)" – sagte ich

und richtete die Waffe auf den Mann.

"Mist" – dachte ich.

Ich habe den Satz nicht zu Ende gesprochen.

Was habe ich mir dabei gedacht?

Was wollte ich überhaupt sagen?

Und spielt das eigentlich irgendeine Rolle?

Er wird mich sowieso nicht verstanden haben.

Hat er eigentlich gemerkt, daß ich den Satz nicht zuende gesprochen habe?

Wie wird er wohl darauf reagieren?

Wie wird er auf meine Waffe reagieren?

Hatte ich jetzt mit dem Schlimmsten zu rechnen?

Habe ich ihn überhaupt nicht beeindruckt?

Fühlte er sich von mir überhaupt nicht bedroht?

"Raten hilft nicht" – dachte ich, schau ihn dir an.

Was macht er?

Nach was sieht er aus?

Was hat er vor?

Er richtet sich auf.

Er macht die Augen größer ... nein kleiner.

Er sieht überrascht aus.

Er sieht verwundert aus.

Er sieht mich kalt und böse an.

Ich glaube er lacht über mich.

Sehe ich so lächerlich aus?

Habe ich was komisches gesagt?

Ich versuchte, mich von außen zu betrachten:

Ich stand anderthalb Meter von dem Mann entfernt und richtete meine Waffe in seine Richtung. Er stand ruhig und gelassen da, unbeeindruckt von meinen zweifelhaften Aktivitäten. Ich in meiner armseligen Kleidung bis zum Unterkiefer zugeknöpft, er ein einer weit offenen, hauchdünnen, schwarzen Lederjacke. Verglichen mit ihm sah ich wirklich traurig und lächerlich aus.

Ich konnte nicht mehr länger so aussehen, es ist seit nun fast zwei Sekunden nichts mehr passiert; er muß endlich etwas sagen.

Warum sagt er nichts?.....

Doch da, er macht den Mund auf .....

"Ty by na mojom meste shto? (Du an meiner Stelle was?)"

....................

Was ist passiert?

 

Ich war nach dem Film wie benebelt...

Ich erhob meinen Kopf.

Ich schaute auf die Straße.

Ich drehte mich kurz um und fand mich gute dreißig bis vierzig Meter von der Stelle entfernt, wo alles passierte.

In der Ferne sah ich die Beiden glücklich und zufrieden ihren eigenen Weg gehen.

Was ist passiert?

Ich machte einen Schritt zur Seite, um der Frau freie Bahn zu verschaffen.

Sie fuhr vorbei mit einigen Schwierigkeiten, doch sie konnte sich aufrecht erhalten.

Ich verabschiedete mich mit einem dumpfen Lächeln von den Beiden und ging unbeirrt meinen Weg weiter.

Doch die nächsten dreißig bis vierzig Meter hatte ich die Geschichte in meiner Welt unabhängig von der Zeit neu erlebt.

Ich schaute mich um.

Ich atmete tief ein und fühlte wieder die Kälte der feuchten Luft.

Ich war wieder da, in meiner Einsamkeit; umgeben von den vertrauten Mauern der öden Stadt.

Wieder die gleichen, dunklen Gestalten mit ihren verschwommenen Spiegelbildern.

Ich senkte wieder den Kopf, um der gehaßten langweiligen Realität zu entfliehen.

"Ich muß doch die paar Meter bis nach Hause ohne Zwischenfälle schaffen können." – dachte ich und blieb mitten auf der Straße stehen, weil ein ziemlich großes Auto mit Fernlicht ungebremst auf mich zukam ..........

 

Ich war nach dem Film wie benebelt...

 

 

Das Kleingedruckte:

Diese Kurzgeschichte entsprang dem Einfluß des Films "Fight Club"